Die 39. Tage Alter Musik in Regensburg (17. bis 20. Mai 2024)
von Ingo Negwer
Zu Pfingsten führte mich mein Weg wieder nach Regensburg zu den
Tagen Alter Musik. Das renommierte Festival, das 1984 seinen Anfang
nahm, fand in diesem Jahr zum 39. Mal statt. Musikerinnen und Musiker
aus Europa und den USA kamen an die Donau, um einem stets interessierten
Publikum Werke vom Mittelalter bis Beethoven zu präsentieren. Die Regensburger Domspatzen eröffneten zusammen mit dem Barockorchester Musica Florea aus Prag das Festival mit klangprächtiger geistlicher Musik von Jan Dismas Zelenka und Antonio Vivaldi. Carine Tinney (Sopran) und Julia Dendl (Mezzosopran) zeichneten für die Solopartien verantwortlich. Zelenka genoss zu Lebzeiten einen durchaus beachtlichen Ruf, geriet in der Folgezeit aber quasi in Vergessenheit. Seit einigen Jahren erlebt sein Werk zu Recht eine Renaissance, wie man am Freitagabend in der Dreieinigkeitskirche am Beispiel des Magnificats C-Dur und der Simphonie à 8 concertanti hören konnte. Mit „Laudate Dominum omnes gentes“, von Antonio Vivaldi für Chor, Streicher und Basso continuo komponiert, ging es in die Pause. Im zweiten Teil folgten Vivaldis doppelchöriges Kyrie g-Moll und das bekannte Gloria D-Dur. In dem durchweg überzeugenden Konzert ließen insbesondere die Domspatzen unter der Leitung von Christian Heiß mit einem trotz der großen Sängerschar differenzierten, transparenten Chorklang aufhorchen. Beachtlich, wie die jungen Sänger jeden Melodie- und Spannungsbogen überzeugend ausgestalteten. Die Handschrift des seit fünf Jahren als Domkapellmeister tätigen Heiß ist trotz der schwierigen Corona-Jahre deutlich hörbar. Auf die weitere Entwicklung darf man gespannt sein. Lange Zeit war die Dominikanerkirche St. Blasius für das Publikum nicht zugänglich. Das letzte Konzert der Tage Alter Musik fand dort zu Pfingsten 2016 statt. Nach umfangreichen Instandhaltungs- und Renovierungsarbeiten stand der imposante Sakralbau nun wieder zur Verfügung, so auch im Nachtkonzert am Freitag. Auf dem Programm stand eine „Reise entlang der Adria“ mit frühbarocker Musik eher unbekannter italienischer und kroatischer Komponisten, wie Francesco und Gabriele Usper, Gabriello Pulitti, Giulio Schiavetti (Julije Skjavetić) oder Tomaso Cecchino. Die stilistische Prägung durch Italien, insbesondere Venedig, war den wunderbaren geistlichen Konzerten und Instrumentalwerken deutlich anzuhören. In der bekannt hohen stimmlichen Qualität britischer Vokalensembles sang das Marian Consort mit Alexandra Kidgell (Sopran), Rory McCleery (Countertenor und Leitung), David De Winter und Will Wright (Tenor) sowie Christopher Webb (Bass). Das Illyrian Consort mit seinem Leiter Bojan Čičić (Violine), mit Jamie Savan (Zink), Toby Carr (Theorbe) und Steven Devine (Orgel, Cembalo) war den Sängern ein ebenbürtiger Partner. In stets wechselnden Besetzungen ließen die beiden Ensembles die meditative Musik geradezu schwerelos in den großen, akustisch allerdings nicht unproblematischen Kirchenraum aufsteigen. Da verging die nächtliche Stunde wie im Fluge. ![]() The Marian Consort und The Illyrian Consort beim Nachtkonzert in der Dominikanerkirche. Foto: Ingo Negwer Wie in den Jahren zuvor, gelang es mir auch dieses Mal nicht, alle 16 Konzerte des Festivals zu besuchen. Die Kondition und Konzentration des Rezensenten haben Grenzen... So fand ich mich erst am Samstagnachmittag zu einem Konzert in der Basilika St. Emmeram ein. Das französische Barockorchester Les Ombres spielte Violinkonzerte von Jean-Marie Leclaire und Antonio Vivaldi. Solist war der junge französische Geiger Théotime Langlois de Swarte. Noch keine dreißig Jahre alt, überzeugte er mit einer stupenden Souveränität, einer brillanten Virtuosität und zugleich mit einer ausgeprägten Fähigkeit, sein Instrument auch in den langsamen Sätzen facettenreich „sprechen“ zu lassen. Der zweite, von Trauer erfüllte Satz in Vivaldis h-Moll-Konzert RV 384 wurde zu einem melancholischen Zwiegespräch zwischen Solovioline und Cello (Hanna Salzenstein). Das hochvirtuose, geradezu orchestral klangvolle Konzert a-Moll von Leclaire endete hingegen in einem geigerischen Feuerwerk. Les Ombres setzte mit der Sinfonia C-Dur RV 111a und der Sinfonia zur Oper „L’Olimiade“ von Vivaldi sowie mit Leclaires Ouvertüre zu „Scylla et Glaucus“ eigene Akzente. Das Konzert endete nach dem Violinkonzert C-Dur RV 725, das Vivaldi einst für seine Meisterschülerin „Sigra Anna Maria“ komponierte, im anschließenden Beifallssturm des Publikums. ![]() Théotime Langlois de Swarte und Les Ombres. Foto: Ingo Negwer Viel wurde in der Musikwissenschaft über die Intermedien zu „La Pellegrina“ geforscht und geschrieben. Auch in Regensburg fand am Freitag eine wissenschaftliche Tagung zu diesen Zwischenaktmusiken statt, die 1589 anlässlich der Hochzeit Ferdinandos I. de Medici und Christines von Lothringen in Florenz aufgeführt wurden. In der Dreieinigkeitskirche hat der Lautenist Eduardo Egüez eine große Besetzung mit drei Ensembles für die Darbietung der sechs Intermedien zusammengeführt, die vor mehr als 400 Jahren bei den prunkvollen Hochzeitsfeierlichkeiten die fünf Akte der Komödie „La Pellegrina“ von Girolamo Bargagli untergliederten. Ein Team namhafter Komponisten schuf diese Zwischenaktmusiken: Alessandro Striggio, Antonio Archilei, Emilio de’Cavalieri, Cristofano Malvezzi, Luca Marenzio, Giulio Caccini, Jacopo Peri und Giovanni de’Bardi (der Gründer der berühmten Florentiner Camerata). Gleich zwei Vokalensembles – Voz Latino und Novocanto –, das Bläserensemble I Fideli und das Ensemble La Chimera mit Violinen, Gamben, Percussion und einer großen Continuo-Gruppe ließen die kleingliedrigen 1- bis 30-stimmigen Werke erklingen. Das ganze Spektrum weltlicher Vokal- und Instrumentalmusik an der Schwelle von der Renaissance zum (Früh-)Barock wurde vor den Zuhörerinnen und Zuhörern ausgebreitet. Solisten des beeindruckenden Konzerts waren Alcia Amo (Sopran) und Valerio Contaldo (Tenor). ![]() Voz Latino, Novocanto, I Fideli und La Chimera unter der Leitung von Eduardo Egüez in der Dreinigkeitskirche. Foto: Ingo Negwer Welch ein Kontrast im anschließenden Nachtkonzert! Langjährige Festivalbesucher kennen und schätzen das. Hunderte fanden sich erneut in der Dominikanerkirche ein, um der Missa Scaramella von Jacob Obrecht zu lauschen. Grundlage der Messe ist das Lied „Scaramella“, das in den beiden Fassungen von Josquin des Préz und Loyset Compère erklang. Obrechts Messe ist leider nur unvollständig in der Biblioteka Jagiellonska in Krakau überliefert. Die fehlenden Stimmen wurden von Fabrice Fitch, Philipp Weller – der 2018 verstarb – und Paul Kolb rekonstruiert. Ergänzt von Motetten Antoine Brumels, Alexander Agricolas und Jacob Orbrechts wurde die Messe von dem sechsköpfigen Binchois Consort und seinem Leiter Andrew Kirkman aufgeführt. Die Stimmen der Sänger und die Dominikanerkirche mit ihrem großen Nachhall schienen bei dieser Musik zu einer idealen Einheit zusammenzuwachsen. Die polyphonen Klänge füllten den Raum auf „himmlische“ Weise gleichsam von oben herab. Mit „Planctus David“ von Fabrice Fitch (geb. 1967) gedachte das Binchois Consort dem Musikwissenschaftler Philipp Weller. Ein weiteres Vokalensemble aus Großbritannien setzte am Pfingstsonntag das Festival fort. Im Reichssaal stellte sich das Fieri Consort bei seiner Deutschland-Premiere mit englischsprachigen Madrigalen aus der 1588 in London veröffentlichten „Musica Transalpina“ vor. Die acht Sängerinnen und Sänger wählten Kompositionen von Alfonso Ferrabosco d. Ä., Girolamo Conversi, Giovanni Pierluigi da Palestrina und William Byrd aus dieser Sammlung aus und stellten sie italienischen Madrigalen von Philippe Verdelot, Cipriano de Rore und Maddalena Casulana gegenüber. Dabei ließen die vorzüglichen Einzelstimmen mit einer exzellenten Ensemblekultur keine Wünsche offen und ernteten nach Philippe de Montes „Super Flumina Babylonis“ und William Byrds „Quomodo Cantabimus“ – jeweils achtstimmig – den verdienten Applaus. ![]() Das Fieri Consort im Reichssaal. Foto: Ingo Negwer Am Nachmittag gab es ein Wiedersehen mit dem Geiger Théotime Langlois de Swarte, der sich in der Basilika Unserer Lieben Frau zur Alten Kapelle mit seinem Ensemble Le Consort einfand. Mit ansteckender Spielfreude und atemberaubender Virtuosität zogen Langlois de Swarte, Sophie de Bardonnèche (Violinen), Hanna Salzenstein (Violoncello) und Justin Taylor (Cembalo) das Publikum vom ersten Ton an in ihren Bann. Vivaldis Sonate g-Moll RV 73 wurde kurzerhand auswendig vorgetragen. Ein Largo aus der Sonate für Cello und Basso continuo e-Moll RV 40 schloss sich an. Ohne Unterbrechung leiteten die zwei Geiger, aus dem Kirchenschiff kommend, improvisierend zu Giovanni Battista Realis Sinfonia IV über. Weitere Auszüge aus Realis Opus 1 und Marco Uccelinis berühmte Aria sopra „La Bergamasca“ folgten, ehe mit Realis Sinfonia XII über La Follia ein neuer Höhepunkt erreicht war. Neben den Interpreten war insbesondere Giovanni Battista Reali die Entdeckung des Konzerts. Kaum etwas ist über den Zeitgenossen Vivaldis bekannt, der 1709 in Venedig zwölf Triosonaten als sein Opus 1 veröffentlichte. Drei Jahre später erschien noch eine Sammlung mit Violinsonaten. Von Reali möchte man gerne mehr hören, insbesondere so wunderbar interpretiert wie von Le Consort. Théotime Langlois de Swarte und seine Mitstreiter begnügen sich nicht mit durchaus staunenswerter Virtuosität. Die jungen Musikerinnen und Musiker überzeugten vor allem durch ein facettenreiches Zusammenspiel und ließen so die reichlichen lyrischen Momente zu ihrem Recht kommen. Nach der abschließenden Sonata d-Moll „La Follia“ von Antonio Vivaldi – wiederum auswendig gespielt – wurde das sympathisch auftretende Ensemble mit langanhaltenden, stürmischen Ovationen gefeiert. ![]() Le Consort begeistert in der Alten Kapelle: Théotime Langlois de Swarte, Sophie de Bardonnèche und Hanna Salzenstein (v.l.n.r.), im Hintergrund am Cembalo: Justin Taylor. Foto: Ingo Negwer Die Kölner Akademie unter der Leitung von Michael Alexander Willens eröffnete das Abendkonzert mit der Ouvertüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus“ von Ludwig van Beethoven. Im Folgenden standen Beethovens Klavierkonzerte Nr. 3 c-Moll und Nr. 4 G-Dur auf dem Programm. Neben einem bestens disponierten Orchester, das die wohlbekannte Musik mit großer Farbigkeit und reichen Kontrasten aus ungewohnten Perspektiven beleuchtete, weckte mit Tomasz Ritter ein weiterer junger Interpret die Aufmerksamkeit. Der 1995 geborene Pianist gewann 2018 den ersten Internationalen Chopin-Wettbewerb für historische Tasteninstrumente. In der Regensburger Dreieinigkeitskirche begeisterte er als Solist am Hammerflügel. Zwischen ihm und dem Orchester entspann sich ein anregender Dialog auf Augenhöhe. Erstaunlich, wie präsent das Soloinstrument zur Geltung kam, wie ausgewogen das gesamte Klangbild war: ein Plädoyer für die historische Aufführungspraxis auch bei Beethoven! ![]() Die Kölner Akademie mit Tomasz Ritter (Klavier) und Michael Alexander Willens (Leitung). Foto: Ingo Negwer Mit zwei Serenaden von Alessandro Scarlatti, eingerahmt von Georg Friedrich Händels Triosonate G-Dur op.5/4 ging der Pfingstsonntag zu Ende. Die italienische Sopranistin Francesca Aspromonte interpretierte „All’hor che stanco il sole“ und „Notte, ch’in carro d’ombre“ als Opern en miniature mit durchaus schönem, dunkel timbriertem Sopran, aber mit stilistisch nicht immer passender Bühnenroutine. Das Ensemble Arsenale Sonoro fügte sich mit einem durchweg satten, kräftigen Geigenton ein (Boris Begelman, Rossella Croce), selbst die einfach besaitete Laute (Giangiacomo Pinardi) kam mit ungewohnter Präsenz daher. Dem zarten Bild von der „geliebten Nacht“ („Cara Notte“) hätte ein feinerer Pinselstrich insgesamt besser zu Gesicht gestanden. Wie es auch anders geht, zeigte am folgenden Morgen und am selben Ort das Ensemble Quicksilver. Robert Mealy und Julie Andrijski (Violine), Dominic Teresi (Dulzian), David Morris (Viola da Gamba), Charles Weaver (Theorbe), Maximilian Brisson (Posaune) und Avi Stein (Cembalo und Orgel) spielten mit sicherem stilistischen Gespür Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts. In unterschiedlichen Besetzungen brachten sie die feinen Nuancen der Werke Johann Heinrich Schmelzers, Giovanni Legrenzis, Dario Castellos, Dietrich Buxtehudes u.a. zum Klingen. Frühbarocke Kleinodien in bester Manier! ![]() Quicksilver im Reichsaal. Foto: Ingo Negwer Am Montagnachmittag stellten Perrine Devillers (Sopran) und Ariel Abramovich (Vihuela) in der ehemaligen Dompfarrkirche St. Ulrich den spanischen Renaissancekomponisten Estevan Daça vor, der 1576 in Valladolid ein Buch mit Musik für die Vihuela, das iberische Pendant der Laute, veröffentlicht hatte. Das Duo nahm sich der feinen, intimen Musik aus „El Parnasso“ mit der gebotenen Sensibilität an. Von Daça arrangierte spanische Romanzen und Villancicos wechselten mit französischen Chansons ab. Dazwischen brillierte Abramovich auf seinem Instrument mit Fantasien, die originär aus Daças Feder stammen dürften. ![]() Perrine Devillers (Sopran) und Ariel Abramovich (Vihuela). Foto: Ingo Negwer Zum Finale der Tage Alter Musik 2024 gab es noch einmal ein Highlight in großer Besetzung: Händels dreiaktiges Oratorium „Samson“. In der Dreieinigkeitskirche sangen Rebecca Bottone und Joanna Sojka (Sopran), Xavier Sabata (Countertenor), Zbigniew Malak und Robin Bailey (Tenor) sowie Lisandro Abadie (Bass). Der exquisiten Solistenriege stand der hervorragende sechzehnköpfige Chor und das Barockorchester der Capella Cracoviensis ebenbürtig zur Seite. Unter dem temperamentvollen Dirigat von Jan Tomasz Adamus (vom Cembalo aus) entzündeten sie gemeinsam ein circa dreistündiges musikalisches Feuerwerk, an dessen Ende das stürmisch applaudierende Publikum noch eine Zugabe (aus dem Schlusschor „Let their celestial concerts all unite“) bekam. ![]() Die Capella Cracoviensis und Jan Tomasz Adamus werden vom Publikum gefeiert. Foto: Ingo Negwer Auch das diesjährige Pfingstwochenende hinterließ wieder einmal viele bleibende musikalische Eindrücke. Kaum zu glauben, dass ich seit 35 Jahren regelmäßig nach Regensburg pilgere, um diese Tage Alter Musik zu erleben (nur 2020 und 2021 machte die Corona-Pandemie einen Strich durch meine Pläne). Und immer wieder sehe ich gespannt dem nächsten Festival entgegen. Was 2024 vor allem in Erinnerung bleiben wird, sind die aufsehenerregenden Auftritte junger Künstlerinnen und Künstler, die einen angenehm frischen Wind in die Alte-Musik-Szene bringen. Das macht Hoffnung für die Zukunft und Appetit auf Neues – zum Beispiel zu Pfingsten 2025. Die 40. Tage Alter Musik Regensburg finden dann vom 6. bis 9. Juni statt. |
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