Nachhaltige Musikerlebnisse

Die 48. Tage Alter Musik in Herne (14.-17.11.2024)

von Dr. phil. Ingo Negwer


Die 48. Tage Alter Musik in Herne standen unter dem Motto „Reduce – Reuse – Recycle“. Vom 14. bis 17 November loteten Künstlerinnen und Künstler unter der Federführung von WDR 3 die „Kreative Nachhaltigkeit in der Musik vom Mittelalter bis zur Klassik“ aus. Ist Nachhaltigkeit nicht das ureigene Terrain der historisch informierten Aufführungspraxis? Geht es nicht in der sogenannten Alte-Musik-Szene seit ihren Anfängen ums Wiederentdecken und Wiederverwerten? Insofern war das diesjährige Motto ebenso unverfänglich wie passend für das Festival gewählt. Doch auch in der Musik vergangener Epochen wurde bereits Gehörtes stets verändert und umgedeutet. Einen Einblick in die teils hochvirtuose Praxis der variierten Wiederholung gaben Evgeny Sviridov (Violine), Olga Pashenko (Cembalo), Alexander Scherf (Violoncello) und Liza Solovey (Theorbe) im Eröffnungskonzert am Donnerstagabend. Mit beeindruckend souveränem Spiel demonstrierte Sviridov, wie Johann Sebastian Bach in seiner Partita h-Moll für Solo-Violine die Tanzsätze Allemande, Courante, Sarabande und Bourrée in Form auskomponierter Doubles selbst variierte. Der Sohn Carl Philipp Emanuel wandte dieses Verfahren ebenfalls in seinen sechs „Sonates pour le Clavecin avec des Reprises variées“ an. Olga Pashenko spielte daraus die mit vielen Überraschungen gespickte Nummer 4 in d-Moll. In einem autografen Manuskript ist überliefert, wie Giuseppe Tartini sich die verzierte Ausführung seiner langsamen Sätze vorstellte. In der Herner Kreuzkirche übertrugen die Interpreten diese Praxis auf alle Sätze der Sonate Nr. 7 g-Moll für Violine und Basso continuo. Des Weiteren erklangen zwei Sonaten für Violine und Violoncello (jeweils implizit mit Basso continuo) von Franz Benda. Jener gab seinem Schüler Friedrich Wilhelm Rust seine Sonaten mit möglichen Veränderungen mit auf den weiteren Lebensweg.


Evgeny Sviridov (Violine), Olga Pashenko (Cembalo), Alexander Scherf (Violoncello) und Liza Solovey (Theorbe)
(Foto: Ingo Negwer)

Am Freitagnachmittag ging es mit außergewöhnlicher Musik des Mittelalters weiter. Das Ensemble Tasto Solo stellte in der Kreuzkirche spanische Musik der sogenannten Ars subtilior vor. Dem musikgeschichtlich Interessierten ist diese komplexe Art der Mehrstimmigkeit zumeist als recht trockene, in Vergessenheit geratene Stilistik elitärer, akademischer Kreise des 14./15. Jahrhunderts in Erinnerung. Doch Anne-Kathryn Olsen (Sopran), Marine Fribourg (Mezzosopran) und Victor Sordo (Tenor) sowie Pau Marcos und Natalie Carducci (Fidel) und Bérengère Sardin (gotische Harfe) erweckten unter der Leitung von Guillermo Pérez (Organetto, Clavisimbalum) die Kompositionen von Philipp de Vitry, Jacob de Senleches, Trebor – Robert(?), Franciscus Andrieu und Bernard de Cluny zu neuem Leben. In abwechslungsreichen Interpretationen vermittelten sie einen sinnlichen Eindruck von einer längst vergangenen Musikkultur.


Tasto solo in der Kreuzkirche, v.l.n.r.: Guillermo Pérez (Clavisimbalum), Anne-Kathryn Olsen (Sopran), Bérengère Sardin (Harfe),
Marine Fribourg (Mezzosopran), Pau Marcos und Natalie Carducci (Fidel) und Victor Sordo (Tenor)
 (Foto: Ingo Negwer)

Für Johann Sebastian Bach hatte Recycling von Musik eine große Bedeutung, auch wenn er das sicher nicht so genannt hätte. Die Messe h-Moll und vor allem das Weihnachtsoratorium sind die bekanntesten Beispiele für die Wiederverwendung älterer eigener Kompositionen. Aber auch auf Werke anderer Meister griff Bach zurück und arbeitete sie gegebenenfalls für den eigenen Gebrauch um. In Herne zeigte das belgische B’Rock Orchestra unter der Leitung von Cecilia Bernardi, wie der Thomaskantor Giovanni Battista Pergolesis „Stabat Mater“ in eine lutherische Kirchenkantate verwandelte. Für „Tilge, Höchster, meine Sünden“ unterlegte er dem Werk des Italieners nicht nur einen deutschen Text, sondern ergänzte den Instrumentalsatz um eine Bratschenstimme und änderte die Reihenfolge der letzten beiden Duette. Als Solistinnen sangen im Kulturzentrum Deborah Cachet (Sopran) und Marianne Beate Kielland (Mezzosopran). Auch „Armina abbandonata“, ein Jugendwerk von Georg Friedrich Händel, griff Bach für eine eigene Aufführung auf – vermutlich im Zimmermann‘schen Kaffeehaus in Leipzig. Mit dieser nur geringfügig veränderten Kantate eröffneten Deborah Cachet und B‘Rock das Konzert am Freitagabend. Anschließend folgte eine hörenswerte Darbietung des Concerto D-Dur BWV 1050.1, der Frühfassung des 5. Brandenburgischen Konzerts, mit Sien Huybrechts (Traversflöte), Cecilia Bernardi (Violine) und Sebastian Wienand (Cembalo) als Solisten. Eine klanglich schöne Variante war der Einsatz eines G-Violone – gespielt von Tom Devaere – anstelle des größeren Kontrabasses. So erreichte das ohnehin in Minimalbesetzung agierende Ensemble eine weitere kammermusikalische Wirkung.


Das B-Rock Orchestra im Kulturzentrum Herne; Bildmitte: Deborah Cachet (Sopran) und Marianne Beate Killand (Mezzosopran)
(Foto: Ingo Negwer)

Die Capella de la Torre hat sich seit ihrer Gründung im Jahre 2005 zu einer der renommiertesten und erfolgreichsten deutschen Alte-Musik-Formationen entwickelt. Mit innovativen Programmen, quicklebendig gestalteten Konzerten und nicht zuletzt über 30 Einspielungen hat sie eine große Fangemeinde gewonnen. Kein Wunder also, dass das Konzert mit Capella de la Torre am Samstagnachmittag restlos ausverkauft war. Katharina Bäuml (Schalmei und Leitung) führte mit ihren sieben Kolleginnen und Kollegen an Pommer, Dulzian, Posaunen, Laute, Percussion und Orgel das Publikum in der Kreuzkirche musikalisch durch den Jahreskreis. Dabei griffen sie neben Raritäten auch auf die „Hitparade“ der Renaissancemusik zurück: Michael Praetorius’ Branle de la Torche war ebenso zu hören, wie König Heinrichs VIII. „Pastime with good Company“, Thoinot Arbeaus „Belle qui tiens ma vie” oder das anonym überlieferte „Greensleeves”. Zusammen mit Margaret Hunter (Sopran) und Minsub Hong (Tenor) fügten die Instrumentalisten dies alles zu einem unterhaltsamen, kurzweiligen Musikerlebnis zusammen. Lediglich den quasi permanenten Einsatz von Schlaginstrumenten empfand ich gelegentlich als störend, aber über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten... Am Ende waren alle in der Kreuzkirche hellauf begeistert und wurden von der Capella mit zwei Zugaben verabschiedet.


Capella de la Torre, v.l..r.: Katharina Bäuml (Schalmei), Hildegard Wippermann (Blockflöte), Mike Turnball (Perkussion),
Martina Fiedler (Orgel) und Margaret Hunter (Sopran)
(Foto: Ingo Negwer)


Sehr viel ruhiger und meditativer ging es kurz vor Mitternacht in den Flottmann-Hallen zu. Die Mittelalterspezialisten von Per-Sonat unter der Leitung von Sabine Lutzenberger (Mezzosopran) widmeten sich der zumeist improvisierten Mehrstimmigkeit des Frühmittelalters. Die sieben Sängerinnen und Sänger, unterstützt von Baptiste Romain (Dudelsack, Fidel) und Elizabeth Rumsey (Fidel) ließen über vorgegebenen Choralmelodien in Quart- oder Quintparallelen neue Melodien entstehen, so dass sich der Raum der ehemaligen Industriehalle gleichsam magisch mit Klang füllte. Wie mag diese Musik in den großen romanischen Kirchen auf die Zuhörer vor circa tausend Jahren gewirkt haben? Jedenfalls wurde damals der Grundstein für die einzigartige abendländische Kultur der Mehrstimmigkeit gelegt. In Herne sorgte Per-Sonat zu später Stunde mit diesem außergewöhnlichen Programm für einen Höhepunkt des diesjährigen Festivals.


Das Ensemble Per-Sonat in den Flottmann-Hallen (Foto: Ingo Negwer)


Schon am Sonntagmorgen endeten für mich die Tage Alter Musik 2024 mit einem Cembalo-Recital im Kulturzentrum. Mahan Esfahani spielte ebenso introvertiert wie feinsinnig Musik von Girolamo Frescobaldi, Jean-Henri d’Anglebert und Johann Sebastian Bach. Mit äußerst differenzierter Artikulation und geschickten Registrierungen entlockte er seinem Instrument eine facettenreiche Musik. In Bachs Englischer Suite Nr. 6 trumpfte er zudem mit souveräner Virtuosität auf. Ein berückend schöner Abschied!


Mahan Esfahani am Cembalo (Foto: Ingo Negwer)


Mit Esfahanis Cembaloklängen im Ohr verließ ich die Stadt Herne. Einige Konzerte konnte ich dieses Jahr nicht miterleben und daher auch nicht davon berichten, u.a. von der konzertanten Aufführung der Mozart-Oper „Idomeneo“, mit der die Tage Alter Musik 2024 endeten. Doch glücklicherweise kann man die Konzerte auf dem WDR 3 Konzertplayer nachhören. Außerdem stehen einige Sendetermine noch aus (s.u.). Insgesamt war das Festival in diesem Jahr wieder ein schöner Erfolg, nicht zuletzt, weil die Veranstalter sich mittels verschiedener weiterer Formate um das Publikum bemühten. Stellvertretend sei die Live-Übertragung von WDR 3 Tonart vor Ort mit Musik und Gesprächen genannt. Am Samstag wurde von 15 bis 17.45 Uhr direkt aus dem Herner Kulturzentrum gesendet. Auch spontan Zuhörende waren herzlich willkommen und lauschten u.a. den Musikbeiträgen der Capella de la Torre. Auch der Bayerische Rundfunk sendete am Sonntag live aus Herne. Ebenfalls erwähnenswert: die kurzen Foyer-Konzerte, mit denen das renommierte Ensemble Caterva Musica im Kulturzentrum auf die Abendkonzerte einstimmte.



Sendungen auf WDR 3:
Fr. 29.11.2024 (20.03 Uhr) Besonders raffiniert. Tasto solo
Di. 3.12.2024 (20.03 Uhr) So oder so. Evgeny Sviridov u.a.
Do. 5.12.2024 (20.03 Uhr) Neu organisiert. Per-Sonat
Do. 23.1.2025 (20.03 Uhr) Berührend reduziert. Mahan Esfahani
Fr. 28.2.2025 (20.03 Uhr) Innovativ tradiert. Capella de la Torre


WDR 3 Tonart vor Ort. Nicolas Tribes im Gespräch mit Katharina Bäuml (Capella de la Torre). Rechts: Hildegard Wippermann (Pommer)
(Foto: Ingo Negwer)


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