Telemann im Taunus

Kantaten aus dem "Französischen Jahrgang" in Kronberg (8. Juli 2022)

von Dr. phil. Ingo Negwer


Von 1712 bis 1721 war Georg Philipp Telemann städtischer Musikdirektor in Frankfurt am Main. In jener Zeit schuf er u.a. seinen 72 Kirchenkantaten umfassenden „Französischen Kantatenjahrgang“ (1714/15). Das Collegium musicum der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und das Forum Alte Musik Frankfurt haben das Telemann Project mit dem Ziel gegründet, diesen Kantatenzyklus der Musikwelt wieder zugänglich zu machen. Neben Einspielungen (beim Label cpo) und Noteneditionen (beim australischen Verlag Canberra Baroque) sind auch Wiederaufführungen der Kantaten, die teils einen über 300 Jahre langen Dornröschenschlaf hinter sich haben, Ziele des Projekts. Eine erste Doppel-CD mit den Gutenberg Soloists und dem Neumeyer Consort unter der Leitung von Felix Koch ist kürzlich erschienen und wurde sogleich für den Opus Klassik 2022 in der Kategorie Chorwerkeinspielung nominiert.

Anfang Juli dieses Jahres war Felix Koch, Spiritus Rector und treibende Kraft des Telemann Project, mit „seinen“ Musikerinnen und Musikern zu Gast in Kronberg im Taunus. Auf dem Programm in der Kirche St. Johann standen drei Kantaten aus dem „Französischen Jahrgang“, ergänzt durch Choralvorspiele und Choräle. Letztere wurden als Stilkopien von Studierenden des Studiengangs Musiktheorie an der Johannes-Gutenberg-Universität auf der Grundlage von Telemanns Sammlungen „Fugierende und verändernde Choräle“ und „Fast allgemeines Evangelisch-Musikalisches Lieder-Buch“ für Gesangsstimmen und Instrumente bearbeitet. Unter der Anleitung von Professor Birger Petersen, der selbst mit „Vater unser im Himmelreich“ ein Arrangement beisteuerte, schufen Katharina Moos („Ach Gott, vom Himmel sieh darein“), Antonio Kapper („Was fehlt dir noch“) und Hye Min Lee („O Haupt voll Blut und Wunden“) Kantaten en miniature in vielfältigen Besetzungen und sicherem Gespür für die evangelische Kirchenmusik des frühen 18. Jahrhunderts.

Im Zentrum des gut besuchten Konzerts standen Telemanns originäre Kantaten. Den Vokalpart gestalteten die 2020 geründeten Gutenberg Soloists, wobei die Solisten Kathrin Lorenzen (Sopran), Etienne Walch (Altus), Fabian Keller (Tenor) und Gotthold Schwarz (Bass) der Aufführungspraxis zu Telemanns Zeit entsprechend als Mitglieder des 12-köpfigen Vokalensembles fungierten. Bemerkenswert ist die gelungene Mischung aus routinierten Musikerinnen und Musikern, wie dem souverän mit schlankem Bass und klarer Diktion singenden Gotthold Schwarz, und vielversprechenden Nachwuchskünstlern, die mit teils beachtlichen Leistungen auf sich aufmerksam machten. Stellvertretend sei der junge, aufstrebende Countertenor Etienne Walch erwähnt, der mit zwei berückenden Arien aufhorchen ließ. Hier folgt das Telemann Project ganz offenkundig Wegen, die man vor einigen Jahren in den schmerzlich vermissten Kaisersaal Konzerten in Frankfurt am Main bereits eingeschlagen hatte.

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Die Gutenberg Soloists und das Neumeyer Consort in der Kirche St. Johann. Am Pult: Felix Koch (Foto: Ingo Negwer)

Hörenswert sind die Kantaten des „Französischen Jahrgangs“ vor allem hinsichtlich ihrer inneren Geschlossenheit und formalen Vielfalt. Die geradezu unerschöpfliche kreative Energie Telemanns zeigt sich hier bereits in seinen jungen Jahren. „Ach, wie beißt mich mein Gewissen“, aber auch „Was fehlt dir noch“ und „Brich dem Hungrigen dein Brot“ erwiesen sich in dieser Hinsicht unverkennbar als Vorläufer der späteren Leipziger Kantaten Johann Sebastian Bachs. Felix Koch leitete die Gutenberg Soloists und das Neumeyer Consort mit sicherem Gespür für Telemanns barocke Klangwelt und gab zudem informative Erläuterungen zu den einzelnen Werken. So wurden die Wiederaufführungen der Kantaten vor allem durch die Ensembleleistung ein gefeierter Erfolg. Das Konzert in der schönen, akustisch geradezu idealen Kronberger Kirche St. Johann war ein überzeugendes Plädoyer für das Telemann Project. Der Appetit auf mehr ist geweckt.


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