Im neuen Gewand

Blockflötenfesttage Bad Kissingen (26.-29. Mai 2022)

von Ingo Negwer


Traditionell an Christi Himmelfahrt wurden die 37. Blockflötenfesttage eröffnet. Drei Jahre, bedingt durch die Corona-Pandemie, waren vergangen, seit das Festival rund um das beliebte Holzblasinstrument zuletzt stattfand. Man blieb in dieser Zeit allerdings nicht untätig und hat eine grundlegende Umstrukturierung der Festtage vollzogen.

Unter neuer Leitung mit Silke und Joachim Kunath als Veranstalter und Organisatoren sowie der Blockflötist Maurice Steger als Intendant ist man von Stockstadt am Rhein nach Bad Kissingen umgezogen. Der ursprüngliche, durchaus liebevolle Charme von Mehrzweck-, Turnhalle und Campingambiente ist dem kleinstädtisch mondänen Treiben des reizvollen fränkischen Kurorts gewichen. Alle Veranstaltungen der Festtage – Konzerte, Meisterkurse, Ausstellung u.v.m. – fanden nun im neobarocken Regentenbau statt. Ich nutzte die Gelegenheit, eine Auswahl des vielfältigen Programms zu besuchen.

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Regentenbau und Kurpark in Bad Kissingen (Foto: Ingo Negwer)

Den Auftakt machten am Donnerstagabend Maurice Steger und die Akademie für Alte Musik Berlin mit Werken von Georg Philipp Telemann, Antonio Vivaldi und Johann Bernhard Bach. Von Beginn an, in Telemanns virtuoser Suite a-Moll für Blockflöte, Streicher und Basso continuo, zeigte sich, dass sich hier zwei kongeniale Partner gefunden haben, die gleichsam eine Sprache sprechen. Die Akademie, 1982 in Berlin gegründet, hat auch nach vier Jahrzehnten nichts an Frische verloren, auch wenn sie im großen Max-Littmann-Saal nur in einer Minimalbesetzung auftrat: zwei Violinen, Viola, Cello, Bass, Cembalo und Theorbe bzw. Barockgitarre. Mit Vivaldis Concerto g-Moll sowie Johann Bernhard Bachs Ouvertüre e-Moll konnten die Berliner Jubilare unter der Leitung ihres Konzertmeisters Georg Kallweit dennoch überzeugen. Eine Auswahl aus Telemanns Klingender Geographie zeigte den weiten, offenen Blick des Barockmeisters auf die europäischen Musikstile seiner Zeit. Hier mischte Maurice Steger mit verschiedenen Blockflöten, vom Tenor bis zum kleinen Flautino, wieder mit. Das Finale bildete Vivaldis bekanntes Concerto D-Dur „Il Gardellino“. Maurice Steger ließ den kleinen Distelfink in Gestalt des Flautino sehr frei, hoch virtuos und tonmalerisch im Dialog mit dem Orchester zwitschern. Mit Ovationen des Publikums im leider nicht ausverkauften Max-Littmann-Saal und einer Telemann-Zugabe endete das Eröffnungskonzert.

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Maurice Steger und die Akademie für Alte Musik Berlin beim Eröffnungskonzert (Foto: Ingo Negwer)

Ein umfangreiches Begleitprogramm ergänzte die Konzertreihe der Blockflötenfesttage, wobei auch das Publikum in das künstlerische Geschehen einbezogen wurde. Schon am Donnerstagnachmittag gab es im Rossini-Saal die Möglichkeit, unter der Leitung von Simon Borutzki im großen Blockflötenorchester selbst mitzuspielen. Zu Beginn des Meisterkurses am Freitagmorgen trug der junge Blockflötist Roman Sauter (12 Jahre) den ersten Satz aus Benedetto Marcellos Sonata d-Moll vor und ließ sich von Maestro Maurice Steger wertvolle Tipps zu Artikulation, Stilistik und Bühnenpräsenz geben. Anschließend hieß es noch einmal: „Sie, liebes Publikum“. Viele Zuhörerinnen und Zuhörer packten ihre kleinen und großen Blockflöten aus, um unter der Anleitung von Simon Borutzki den berühmten Gefangenenchor von Giuseppe Verdi einzustudieren. Eine knapp halbstündige Orchesterprobe mit dem Publikum, deren Resultat sich durchaus hören lassen konnte.

Ein Highlight des Festivals war das Abendkonzert mit Flautando Köln. Das Blockflötenquartett wollte sein Programm „Heimat“ eigentlich schon 2020 bei den Blockflötenfesttagen präsentieren. Die Corona-Pandemie hatte auch dies verhindert. Nun stellten Susanna Borsch, Susanne Hochscheid, Kerstin de Witt und Ursula Thelen in Bad Kissingen musikalisch die Frage, was denn Heimat sei. Ist es die sogenannte Alte Musik, etwa von John Playford? Oder Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge (Contrapunctus 1 & IX)? Findet man sie in der Folklore fremder Länder? In der Türkei, in Irland oder Skandinavien? Vielleicht im Mittelalter (Neidhart von Reuenthal)? Bieten neue Kompositionen ein Stück Heimat? Die kanadische Komponistin Rachel Cogan (*1968) mit melancholisch wirbelndem Laub – „Swirling Leaves“ – oder Jan Rokyta (*1969) mit der „Balkanalogy“ voller südosteuropäischer Rhythmen standen stellvertretend für diesen Aspekt. „Freundschaft, das ist wie Heimat“. Dieses Zitat von Kurt Tucholsky stellten die vier Blockflötistinnen ihrem Programm als Motto voran. Und jeder bzw. jede konnte den eigenen Standort erforschen. Flautando Köln jedenfalls hat die Tradition des Consort-Spiels seit Jahren erfolgreich neu definiert und begeistert weiterhin seine große Fangemeinde mit Homogenität, Stilsicherheit, einer Fülle an Klangfarben und jeder Menge Spielfreude. Das begeisterte Publikum im nahezu ausverkauften Rossini-Saal entließ die Musikerinnen erst nach zwei Zugaben.

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Flautando Köln in Aktion, v.l.n.r.: Kerstin de Witt, Susanna Borsch, Ursula Thelen, Susanne Hochscheid (Foto: Ingo Negwer)

Italienische Barockmusik stand im Mittelpunkt der Matinee am Samstagmorgen. Maurice Steger erläuterte bereits im Meisterkurs des Vortags, dass es im 18. Jahrhundert Hauptzweck der Musik gewesen sei, die Zuhörer zu erfreuen. Mit Werken von Ignazio Sieber, Francesco Mancini, Giuseppe Sammartini und einem gewissen Giacomo oder Lodovico Ferronati zeigten Sabrina Frey (Blockflöten) und Philippe Grisvard (Cembalo) nun, was es damit auf sich hat. Antonio Vivaldi durfte in diesem illustren Kreis selbstverständlich nicht fehlen. Mit der geforderten Virtuosität, klarer, gerader Melodieführung ließ Sabrina Frey die kammermusikalischen Kleinodien aufleuchten. Philippe Grisvard begleitete sie als ebenbürtiger Partner und setzte mit Alessandro Scarlattis Toccata VIII und mit der Toccata Arpeggio von Azzolino Bernardino della Ciaia zwei hörenswerte Akzente. Nach einer guten Stunde voller „Italianità“ entließ das Duo sein Publikum hoch erfreut in den sonnigen Tag.

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Philippe Grisvard und Sabrina Frey  (Foto: Ingo Negwer)

Leider gingen die Tage in Bad Kissingen wie im Fluge vorbei, ohne dass ich von allen Veranstaltungen berichten kann. Schließlich versammelte man sich am Sonntagnachmittag im Rossini-Saal zum Abschlusskonzert mit Stefan Temmingh (Blockflöte), Domen Marincic (Viola da Gamba, Barockcello) und Wiebke Weidanz (Cembalo). Das Programm vereinte unter dem Motto „Prachtvoll Barock!“ eine Reihe wohlbekannter und beliebter Werke des 18. Jahrhunderts. Gleich zu Beginn erklang das Trio F-Dur für Blockflöte, Viola da Gamba und Basso continuo von Georg Philipp Telemann. Im Anschluss erinnerte Temmingh an seinen jüngst verstorbenen Lehrer Markus Zahnhausen (1965-2022), dessen Komposition „Lux Aeterna“ für Altblockflöte solo er quasi ätherisch entrückt mit teils extremem Pianissimo wiedergab. Nach diesem außerplanmäßigen Intermezzo folgten Nicolas Chédevilles Sonata VI aus „Il Pastor fido“ sowie – begleitet nur vom Cembalo – Georg Friedrich Händels Sonate h-Moll op. 9/1. Noch einmal stand Telemann mit dem Trio d-Moll in der außergewöhnlichen Besetzung mit Blockflöte, Diskantgambe und Basso continuo auf dem Programm, ehe Temmingh und seine Mitstreiter bei Jean-Marie Leclaires Sonata D-Dur op. 2/8 im eleganten französischen Stil schwelgen durften. Stefan Temmingh pflegt ohnehin einen weichen, flexiblen Blockflötenton, liebt eher den opulenten Schönklang als exzentrische Kontraste. Dass er darüber hinaus die virtuose Bravour beherrscht, stellte er schließlich in Francesco Maria Veracinis Sonata g-Moll op.1/1 unter Beweis. Im Schlusssatz „Postiglione“ ging geradezu die Post ab, was das Publikum zu tosendem Applaus und Bravo-Rufen bewegte. Mit Johann Sebastian Bachs Siciliana aus BWV 1031 klangen die Blockflötenfesttage friedlich aus.

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Domen Marincic, Wiebke Weidanz und Stefan Temmingh. Maurice Steger als stiller Beobachter im Hintergrund (Foto: Ingo Negwer)


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