Die Tage Alter Musik in Herne (11. bis 14. November 2021)
von Dr. phil. Ingo Negwer
Im vergangenen Jahr mussten die Tage Alter Musik in Herne aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden. Nun aber luden der Westdeutsche Rundfunk und die Stadt Herne zur 45. Auflage des renommierten Festivals der historischen Aufführungspraxis. Aus der Dunkelheit der Kreuzkirche erhob sich der tiefe Ton einer Bassklarinette, über dem die Stimmen des Vokalensembles La Tempête einsetzten: John Taveners Song for Athene, eine Komposition aus dem Jahr 1993 zum Auftakt der Tage Alter Musik. Im weiteren Verlauf erklangen Vokalwerke des Mittelalters, der Renaissance und der Moderne, die in etwa der Liturgie eines Requiems folgend um die Themen Schlaf, Traum und Tod kreisten. Eine sparsame Lichtinstallation (Marianne Pelcerf) akzentuierte die meditative Grundstimmung des gut einstündigen Programms. Simon-Pierre Bestion folgte stringent einem subjektiv emotionalen Interpretationsansatz, der den Kompositionen von Olivier Greif, Giacinto Scelsi, Arvo Pärt u.a. sehr gut zu Gesichte stand. Bei den älteren Werken von Heinrich Isaac, Ludwig Senfl und insbesondere bei den anonymen mittelalterlichen liturgischen Gesängen wirkte dies eher befremdlich. Nichtsdestotrotz bot La Tempête, instrumental unterstützt von Liselotte Emery (Zink) und Matteo Pastorino (Bassklarinette) ein stimmiges Eröffnungskonzert. Die Tage Alter Musik standen in diesem Jahr frei nach Jean-Jacques Rousseau unter dem Motto Zurück zur Natur. Den Weg zurück zu einer schlichten, natürlichen Religiosität suchten im 14./15. Jahrhundert die Brüder und Schwestern vom Gemeinsamen Leben, eine vor allem in den Niederlanden verbreitete Laienbruderschaft. Deren musikalisches Vermächtnis aufzuspüren und einem heutigen Publikum zugänglich zu machen, hat sich Le Miroir de Musique am Freitagnachmittag zur Aufgabe gemacht. In wechselnden Besetzungen mit Laute, Quinterne (Marc Lewon, Rui Stähelin) und Fideln (Baptiste Romain, Elizabeth Rumsey) und vor allem hervorragenden Sängerinnen und Sängern (Sabine Lutzenberger, Tessa Roos, Achim Schulz, Matthei Le Levreur, Baptiste Romain, Rui Stähelin) beleuchtete das Ensemble die einfachen geistlichen Melodien aus verschiedenen Perspektiven und brachten sie facettenreich zum Klingen.
In Frankreich pflegte man im frühen 18. Jahrhundert nicht nur eine zukunftsweisende Orchesterkultur, man liebte auch das musikalische Experiment. Dessen durfte man gleich zu Beginn des Konzerts am Freitagabend im Kulturzentrum Zeuge sein. Jean-Féry Rebel lässt in seiner Symphonie nouvelle Les Élémens die Harmonie der Elemente allmählich aus dem Chaos eines veritablen Clusters den gleichzeitig gespielten Tönen der Oktave entstehen. In den folgenden Sätzen fügt sich alles schließlich zur göttlichen Ordnung, mündet in Vogelgesang und Jagdvergnügen. In seiner Fantasie Les Caractères de la danse gab Rebel einen Überblick über die höfischen Tänze seiner Zeit. Dem konventionellen Weg der französischen Orchestersuite folgte François Couperin in seinem Concert Nr. 8 G-Dur Dans le Goût théatrale. Das belgische Barockorchester Il Gardellino unter der Leitung von Korneel Bernolet bot diese Werke des französischen Hochbarock mit stilsicherer Hingabe. Zwei Kantaten von Louis-Nicolas Clerambault wurden indessen zu den Highlights des Abends. Dies war insbesondere das Verdienst von Deborah Cachet, die mit glockenreinem Sopran und perlenden Koloraturen begeisterte. Ein Musikfestival, das unter dem Motto Zurück zur Natur steht, wird zweifellos auch den Weg ans Wasser finden. So geschah es am Samstagnachmittag in der Kreuzkirche. Das tschechische Collegium Marianum und seine Leiterin Jana Semerádová (Traversflöte) hatten ein kurzweiliges Programm mit bekannten und weniger bekannten Kompositionen zum Thema Wassermusiken nach Herne mitgebracht. Zum Auftakt spielten sie Antonio Vivaldis Sinfonia aus der Serenata La Senna festeggiante. Von Georg Philipp Telemann erklangen eine Ouvertüre A-Dur, das Concerto grosso h-Moll für zwei Traversflöten, Theorbe, Streicher und Basso Continuo und das Concerto A-Dur Die Relinge (Die Teichfrösche). Dieses Violinkonzert, von Lenka Torgersen als Solistin und dem Collegium Marianum mit Spielfreude und einer gehörigen Portion Humor präsentiert, darf mit seinen aberwitzigen quakenden Tonrepetitionen im Kopfsatz durchaus als Vivaldi-Parodie betrachtet werden. Musik vom französischen Hof (Michel-Richard Delalande, Marin Marais) rundeten das Konzert ab, das wie sollte es anders sein mit Georg Friedrich Händels Suite G-Dur aus der Water Music zu Ende ging. Eine Auszeit nahm sich laut Vergil der trojanische Kriegsflüchtling Aeneas in Chaonia im heutigen Albanien. Diese Episode aus der Aeneas bildete die Vorlage für die Serenata Enea in Caonia von Johann Adolf Hasse. Mit diesem 1727 in Neapel uraufgeführten Jugendwerk gönnten sich die Tage Alter Musik im Kulturzentrum jedoch keineswegs eine Auszeit. Vielmehr kann die konzertante Aufführung durchaus als Höhepunkt des diesjährigen Festivals angesehen werden. Man mag sich schon wundern, dass Hasses Werk auf den Opernbühnen nach wie vor so sehr im Schatten Händels oder Vivaldis steht, insbesondere wenn es von einem solchen exzellenten Solistenensemble gesungen wird. Paola Valentina Molinari (Sopran) als Eleno, Anthea Pichanick (Alt) als Enea, Gaia Petrone (Mezzosopran) als Andromaca, Giulia Bolcato (Sopran) als Ilia und Luca Cervoni (Tenor) ließen quasi keine Wünsche offen. Das eigens für die Wiederaufführung von Enea in Caonia 2018 in Rom gegründete Enea Barock Orchestra spielte unter der Leitung von Stefano Montanari mit Verve und Akkuratesse.
Mit einem Nachtkonzert der Accademia del Piacere in der Künstlerzeche Unser Fritz 2/3 endete der dritte Festivaltag. In seinem Programm Bauerntanz im Spiegelsaal folgte das in Spanien beheimatete Ensemble den Wegen, die spanische und lateinamerikanische Volkstänze von den Dorfplätzen und aus den Spelunken an den Hof zu Versailles genommen haben. Fahmi Alqhai, Johanna Rose (Viola da Gamba), Carles Blanch (Gitarre), Javier Núñez (Cembalo) und Agustín Diassera (Percussion) erweckten Fandango, Guaracha, Sarabanda, Folías, Canarios etc., wie sie u.a. in Gitarrenbüchern von Gaspar Sanz und Santiago de Murcia überliefert sind, in hoch virtuosen Arrangements und Improvisationen zum Leben. Im zweiten Teil zeigten sie die Verwandlungen dieser folkloristischen Vorlagen in den eleganten französischen Barockstil eines Marin Marais, Jean-Baptiste-Antoine Forqueray und Jean-Philippe Rameau. Am Sonntagmorgen stand der Naturfreund Ludwig van Beethoven im Zentrum der Matinee mit dem G.A.P. Ensemble. Zum Auftakt spielten Luca Quintavalle (Hammerflügel) und Oriol Aymat Fusté (Violoncello) seine Variationen über das Thema Bei Männern, welche Liebe fühlen aus Mozarts Zauberflöte. Joseph Haydn (Beethovens Lehrer, aber keineswegs Vorbild. Nachzulesen im wie gewohnt ausführlichen und informativen Programmbuch der Tage Alter Musik) war mit seinem Divertimento G-Dur für Traversflöte (Martin Sandhoff), Violine (Emilio Percan) und Violoncello vertreten, ehe der erste Teil des Konzerts mit Beethovens Frühlingssonate op. 24 für Pianoforte und Violine zu Ende ging. Nach der Pause stand die sechste Sinfonie Pastorale in einem zeitgenössischen Arrangement auf dem Programm. Johann Nepomuk Hummel bearbeitete das große Orchesterwerk für Klavier, alternativ ergänzt mit Traversflöte, Violine und Violoncello. Entstanden ist eine unerhört transparente Kammermusik, die gleich dem Original durchaus zum Ausdruck der Empfindung (Beethoven) fähig ist, insbesondere wenn sie so exquisit wie vom G.A.P. Ensemble dargeboten wird. Dennoch hatte es der klangsensible Hammerflügel, obgleich melodieführend, immer wieder schwer, sich gegen Violine und Traversflöte durchzusetzen. Hummels Bearbeitung war wohl doch mehr für die ambitionierte, gehobene Hausmusik gedacht denn für die Konzertbühne. Noch einmal ging es am Nachmittag in die Kreuzkirche, wo La Pifarescha den rauen Klang Arkadiens einer mittelalterlichen, frühneuzeitlichen Alta Capella, einem Ensemble mit Schalmei, Flöten, Posaunen, Businen u.v.m. zu Gehör brachte. Eine dem traditionellen italienischen Improvisationstheater nachempfundene Szenenfolge bildete den roten Faden durch das Programm. Der Schauspieler und Musiker Alfio Antico stellte mit ausdrucksvollem Gesten- und virtuosem Tambourinspiel assoziative Bezüge zum antiken Dionysos-Kult her.
Zum Finale am Sonntagabend bot der Westdeutsche Rundfunk im Kulturzentrum Herne eines seiner eigenen Spitzenensembles auf. Zusammen mit dem Barockorchester LArte del Mondo gab der WDR Rundfunkchor eine konzertante Aufführung von Henry Purcells Semi-Opera The Fairy-Queen. Die Gesamtleitung hatte Stefan Parkman. Mit Ausnahme des Countertenors David Feldman stellte der Rundfunkchor alle Solistinnen und Solisten: Benita Borbonus, Simone Krampe, Insun Min-Neuburger, Nadezda Sentatskaya (Sopran), Joachim Steckfuß, You Zuo, Thomas Jakobs (Tenor), Richard Logiewa, Alexander Schmidt (Bariton) und Manfred Bittner (Bass) konnten stimmlich überzeugen und zeigten sich auf unterschiedliche Weise durchaus vertraut mit barocker Gesangsstilistik. Der WDR Rundfunkchor (Einstudierung: Christian Rohrbach) und LArte del Mondo begeisterten auf beachtlichem Niveau. Mit einer Zugabe und Standing Ovations gingen die Tage Alter Musik 2021 zu Ende.
Ausdrücklich erwähnenswert ist letztendlich die vorbildliche Organisation des Festivals durch den WDR und die Stadt Herne, die mit vielen helfenden Händen für lückenlose und nahezu reibungslose Eingangskontrollen (3G-Regel) vor den Konzerten sorgten. Leider hat uns das Corona-Virus noch immer fest im Griff. Die Tage Alter Musik waren jedoch im dunklen November ein wunderbarer Lichtblick. Es steht zu hoffen, dass wir mit Vernunft und Bedachtsamkeit bald wieder regelmäßig solch schöne Ereignisse genießen dürfen. |
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